4/01/2008

Der Sturm














Nein, mein Bruder, ich habe die Einsamkeit nicht aus religiösen Gründen gesucht, sondern einzig und allein deshalb, um die Menschen und ihre Gesetze zu meiden und um ihren Lehren und Traditionen, ihren Ideen, ihrem Lärm und ihrem Wehklagen zu entkommen.
Ich habe die Einsamkeit gesucht, um nicht die Gesichter der Menschen sehen zu müssen, die sich selbst verkaufen und für den selben Preis etwas erstehen, das noch niedriger ist, geistig und materiell. (...)
Ich habe die Einsamkeit gesucht, denn niemals habe ich Freundlichkeit von einem menschlichen Wesen erfahren, wenn ich nicht den vollen Preis mit meinem Herz bezahlt habe.
Ich habe die Einsamkeit gesucht, denn ich hasse die großartige und furchtbare Einrichtung, die die Menschen Zivilisation nennen – diese symmetrische Ungeheuerlichkeit, erbaut auf dem fortdauernden Elend der menschlichen Rasse.
Ich habe die Einsamkeit gesucht, denn in ihr gibt es volles Leben für den Geist, für die Seele und für den Körper. Ich habe die endlosen Grasebenen gefunden, auf denen das Licht der Sonne liegt, wo die Blumen ihren Duft in den Raum atmen und wo die Bäche ihren Weg zum Meer singen. Ich habe die Berge entdeckt, auf denen ich das frische Erwachen des Frühlings fand, das farbenprächtige Sehnen des Sommers, die reichen Gesänge des Herbstes und das schöne Geheimnis des Winters. Ich kam in diese entlegene Ecke von Gottes Herrschaftsgebiet, denn ich hungerte danach, die Geheimnisse des Universums zu erfahren und mich dem Thron Gottes zu nähern.

In all (...) diesen Eitelkeiten des Lebens gibt es nur eines, das der Geist liebt und wonach er sich sehnt. Ein einziges, verwirrendes Ding. (...) Es ist das Erwachen des Geistes. Es ist ein Erwachen in den inneren Tiefen des Herzens. Es ist eine überwältigende und großartige Kraft, die sich plötzlich auf das Bewußtsein des Menschen senkt und seine Augen öffnet. Dann sieht er das Leben mitten in einem schwindelerregenden Schauer brillianter Musik, umgeben von einer Sphäre hellen Lichtes. Der Mensch selbst ist wie eine Säule der Schönheit zwischen der Erde und dem Firmament. Es ist eine Flamme, die plötzlich im Geiste wütet und das Herz ausbrennt und reinigt, sie steigt empor über die Erde und schwebt im weiten Himmel. Es ist eine Freundlichkeit, die das Herz des Menschen umschließt, eine Freundlichkeit, mit der der Mensch alle verwirrt und alle enttäuscht, die sich gegen ihn stellen und mit der er gegen alle revoltiert, die sich weigern, ihren großen Sinn zu verstehen. – Eine geheime Hand entfernte den Schleier von meinen Augen, als ich noch ein Mitglied der Gesellschaft war mitten in meiner Familie, unter meinen Freunden und meinen Landsleuten. – Oft war ich verwundert und sprach zu mir selbst: Was ist das für ein Universum und warum bin ich anders als die Leute, die mich ansehen, und wie kann ich sie verstehen, wo habe ich sie kennengelernt und warum lebe ich unter ihnen? Bin ich ein Fremder unter ihnen oder sind sie fremd auf dieser Erde, die vom Leben erschaffen wurde, das mir die Schlüssel anvertraut hat? (...) Das ist es, was mir vor (...) Jahren geschehen ist, als ich die Welt verließ und an diesen unbewohnten Ort kam, um in der Wachheit des Lebens zu leben, mich an freundlichen Gedanken zu erfreuen und an der Schönheit der Stille. (...) Es ist ein Erwachen des Geistes. Wer es kennt, kann es nicht in Worte fassen. Und wer es nicht kennt, wird niemals das bezwingend schöne Geheimnis des Lebens begreifen.

Das Erwachen des Geistes ist eine Flamme, die plötzlich im Geiste wütet und das Herz ausbrennt und reinigt...

Khalil Gibran – Geheimnisse des Herzens

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